5. Die Gottscheer als Objekt der nationalsozialistischen Außen- und Umsiedlungspolitik

Am 6. Oktober 1939 legte HITLER in einer Rede vor dem Reichstag seine Gedanken über eine Neuordnung Europas dar. Nach dem "Zerfall" des polnischen Staates sei notwendig "eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt, eine Umsiedlung der Nationalitäten, so daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist" (72).

Nicht nur Polen, sondern darüber hinaus der gesamte europäische Osten und Südosten seien in diese Problematik einzubeziehen. - Damit hatte HITLER ein Programm angekündigt, dessen teilweise rigorose Durchführung noch während des Zweiten Weltkrieges Millionen Menschen die Heimat kostete.

Während er jedoch in den annektierten Gebieten Polens und der Tschechoslowakei seinen Volkstumsplanern freie Hand ließ, sollte im südosteuropäischen Raum für die Dauer des Krieges zunächst nichts unternommen werden, zumal HITLER gerade auf dem Balkan die Interessen seines Achsenpartners Italien zu berücksichtigen hatte. - Anläßlich seines Maibesuchs in Rom nach dem "Anschluß" Österreichs hatte HITLER ausdrücklich bestätigt, daß er den Adria- und Mittelmeerraum als italienische Interessensphäre betrachtete (73). Hinsichtlich der Volksdeutschen in Südtirol und auf dem Balkan hatte RIBBENTROP noch am 25. 3. 1939 in einem internen Runderlaß an alle beteiligten deutschen Dienststellen präzisiert: "Unsere Haltung in allen Volkstums- und Minderheitenfragen der Mittelmeerländer muß auf die Wünsche der italienischen
Regierung abgestellt werden" (74). Die deutschen Volksgruppen Südosteuropas, besonders die starke deutsche Minderheit in Südslawien, waren durch HITLERS Rede vom 6. Oktober 1939 in starke Erregung versetzt worden. Die deutsche Gesandtschaft in Belgrad sah sich gezwungen, zur Beruhigung der Volksdeutschen im "Deutschen Volksblatt", der größten Volksdeutschen Tageszeitung Südslawiens, eine amtliche Erklärung abzugeben, "daß die Umsiedlungsaktion für Jugoslawien nicht aktuell sei" (75).

Trotzdem suchten die Gottscheer Volksgruppenführer beim deutschen Konsul in Laibach um eine Unterredung nach. Am 6. November 1939 fand sie statt. Darin umrissen sie klar ihren Standpunkt (76).

Im ersten Punkt machten sie bereits die entscheidende Konzession: Auch in der Frage der Umsiedlung habe das Interesse der Volksgruppe hinter dem Interesse des gesamten Volkes zu stehen. Von dieser Basis aus waren die folgenden Überlegungen der Gottscheer entscheidend relativiert und zugespitzt formuliert - fast bis zur Belanglosigkeit degradiert. Die Gottscheer gaben sich einer gefährlichen Illusion hin, wenn sie meinten, man müsse sie erst einmal zu dem Problem hören, und sie könnten dann in einer konkreten geschichtlichen Situation an den Grundsätzen Hitlerscher Außen- und Umsiedlungspolitik nach ihren Vorstellungen Korrekturen anbringen. Aus dem Blickwinkel nationalsozialistischen Denkens mußte es daher als geradezu ketzerhaft empfunden werden, daß die Gottscheer eine vom "Führer" unumstößlich festgelegte Entscheidung als nicht ausreichend für eine eventuelle Umsiedlung betrachteten. "Die Tatsache, daß die Gottschee in die italienische Interessensphäre fällt, ist für die Volksgruppenführung kein Argument, das die Absiedlung in genügendem Maße begründen kann."

Der Gottscheer Hinweis auf den deutsch-russischen Pakt als Beweis dafür, "daß sehr plötzlich ein völliger Umschwung im Verhältnis verschiedener Mächte eintreten kann", entbehrte gewiß nicht der peinlichen Pikanterie. - Die Entschlossenheit, die "Aufbauarbeit" weiter voranzutreiben, ließ noch einmal den Unglauben erkennen, daß der "Führer" uralten deutschen Volksboden aufgeben könne. Wunschdenken drang auch durch in der Meinung, daß die Idee einer "deutschen Brücke zur Adria", die von vielen politisch engagierten Deutsch-Österreichern einst verfochten wurde, in HITLERS außenpolitischen Ambitionen doch noch eine Rolle spielen könnte. Im ganzen läßt dieses Grundsatzdokument erkennen, daß die Gottscheer sich berechtigt glaubten, eigene Vorstellungen äußern zu dürfen und dadurch außenpolitische Entscheidungen revidieren zu können. Von bedingungslosem Gehorsam oder von Fatalismus ist dagegen nichts zu spüren.

Es war der Wille der Gottscheer Führung, bei einem Zerfall des südslawischen Staates ans Reich "angeschlossen" zu werden. Das hatte sich bereits 1939 während der Märzunruhen unter den Volksdeutschen Sloweniens gezeigt, als diese nach der Okkupation der "Resttschechei" offen den Anschluß forderten. Ein Mitglied der Gottscheer Führung hatte sogar am 13. April 1939 von Graz aus ein Telegramm an HITLER mit der Bitte um "Anschluß" geschickt, in dem die Sorge vor einer Einverleibung der Gottschee durch Italien, das gerade Albanien angegriffen hatte, anklang (77).

Daß die Gottscheer auch bei der SS keine Unterstützung fanden, beweist eine Aufzeichnung des Leiters der Volksdeutschen Mittelstelle (VoMi), SS-Obergruppenführers LORENZ, vom 27. Juni 1940, in der für den Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Jugoslawien zwar die Annexion von Teilen der Südsteiermark und Oberkrains an das Deutsche Reich vorgesehen war, nicht aber die der Gottschee. Auch LORENZ betrachtete das Gebiet der Gottschee als zur italienischen Interessensphäre gehörend und folgerte daraus für die Gottscheer konsequenterweise: die Umsiedlung (78).

Die endgültige Entscheidung fiel, als HITLER nach dem sogenannten "Belgrader Putsch" vom 27. 3. 1941 sich entschloß, Jugoslawien anzugreifen und es nach der militärischen Vernichtung bis auf "Altserbien" aufzuteilen. Bereits vor Beginn des Feldzuges hatte er über die territorialen Ansprüche der Nachbarstaaten entschieden (79). Während der dem Kriege unmittelbar folgenden Wiener Konferenz vom 20. April 1941 wurde dann auch die Grenze in Slowenien zwischen Deutschland und Italien im Prinzip festgelegt: Deutschland verzichtete auf Unterkrain und damit auf das Gebiet der Gottschee.

In einem Telegramm, dessen Inhalt der deutsche Botschafter dem bereits abgereisten CIANO übermitteln sollte, wurde noch ausdrücklich betont: "... daß wir die im südlichen Slowenien vor allem in der Gottschee und in Laibach ansässigen Volksdeutschen umzusiedeln beabsichtigen" (80). Die Würfel waren gefallen, obwohl zur selben Zeit Gottscheer noch versuchten, das Unabwendbare abzuwehren (81).

"Für die Volksgruppe gab es in diesen Tagen nur die einzig brennende Frage: was wird mit uns? Bei seinem Besuch im befreiten Marburg wurden dem Führer auch die Vertreter der Gottscheer Volksgruppe vorgestellt. Der Führer bestätigte ihnen die vom Reichsführer SS bereits am 20. April gemachte Mitteilung über das zukünftige Schicksal der Volksgruppe." (82)

Barg diese Entscheidung HITLERS schon für die Gottscheer Führer eine große Enttäuschung, so mußte sie auf die Volksgruppe wie ein Schock wirken. - Als interessant erscheint, daß man zur gleichen Zeit auf einer anderen Ebene noch Pläne über den Anschluß der Gottschee an das "Großdeutsche Reich" schmiedete. Beim Gauverband Kärnten des VDA in Klagenfurt glaubte man noch am 22. April 1941 allen Ernstes an eine solche Möglichkeit.

"Nunmehr gilt die einzige Sorge der Gottscheer dem Anschluß an das Reich. Diese Frage war nicht vorbereitet, ich kann Ihnen aber mitteilen, daß ein diesbezügliches Memorandum (83) im Auftrag von SS HIMMLER von Professor PETER JONKE verfaßt wurde und bereits an die Reichskanzlei abgegangen ist ... Professor JONKE war heute bei mir in der Kanzlei und erzählte mir, daß wir immerhin hoffen dürfen, daß unser aller Wunsch in Erfüllung geht." (84)

Die Hintergründe für diese Aktion sind nicht zu durchschauen. Es ist unwahrscheinlich, daß HIMMLER noch kurz vor der Wiener Konferenz versucht haben sollte, HITLERS langfristig vorbereitete, außenpolitisch motivierte Entscheidung durch ein solches "Memorandum", das auf den volkstumspolitischen Forderungen einer "unbedeutenden" Volksgruppe basierte, zu korrigieren. Viel eher ist anzunehmen, daß HIMMLER, der um die Wünsche völkischer Kreise Kärntens hinsichtlich der Gottschee wußte, die konkrete Forderung dilatorisch behandelte, um die Enttäuschten später vor die vollendete Tatsache stellen zu können, die er dann als durch "Führerentscheid" herbeigeführt darstellen konnte.

Charakteristisch ist an dieser Episode auch, in welchen Illusionen sich national-sozialistische österreichische Großdeutsche bei der Einschätzung der Hitlerschen Volkstumspolitik wiegten. Die falsche Beurteilung der Chancen eines Anschlusses der Gottscheer überrascht um so mehr, als HITLER zu diesem Zeitpunkt bereits die viel bedeutendere Volksgruppe der Südtiroler seiner Achsenpolitik geopfert hatte. Wie bei anderen deutschen Volksgruppen entschied letztlich über das Schicksal der Gottscheer der Primat der Hitlerschen Außenpolitik.

Die Umsiedlung der Gottscheer Deutschen, Hans Hermann Frensing, 1970

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Anmerkungen :

72  NG-1467 zitiert nach H. BUCHHEIM, Anatomie, a.a.O., S. 185 Anm. 177.

73
 vergl.: HORY-BROSZAT, Der Kroatische Ustascha-Staat, a.a.O. S. 25 f.

74  
ebda. S. 32 Anm. 56.

75
 zitiert nach: Dok. d. Vertreibg. Bd. V, a.a.O. S. 75 E f.

76
 Aktenvermerk des Konsulats Laibach vom 6. 11. 39; im Besitz des Verf.

77
 zitiert nach Dok. der Vertreibg. Bd. V, a.a.O. S. 41 E Anm. 43.

78  
Aufzeichnung über die deutsche Volksgruppe in Jugoslawien von SS-Obergruppenführer LORENZ am 27. 6. 1940; PA Inland II g 236.

79  
zitiert nach HORY-BROSZAT a.a.O. S. 41 Anm. 78.

80
 Telegramm von RINTELENS an den Deutschen Botschafter vom 23. 4. 1941; PA Büro Staatssekretär, Jugoslawien Bd. 3.

81  
vgl. dazu OTTERSTÄDT a.a.O. S. 49. "Aber Berlin hatte entschieden. Nicht mit der Großzügigkeit, mit der man nach 1945 Grenzen verschoben und Menschen verjagt oder vernichtet hatte, sondern mit der ethnographischen Genauigkeit, mit der zum Beispiel in den Sudeten jedes Dörfchen nach seiner Volkszugehörigkeit überprüft wurde, ehe man die Grenzziehung zwischen Deutschland und dem damaligen Protektorat, Deutschen und Tschechen, vornahm." - Es muß erstaunen, wie hier mit einem historischen Vergleich nationalsozialistische Annexionspolitik verschleiernd herabgespielt wird.

82
 W. LAMPETER, Die Gottscheer Volksgruppe 1930-1942, undatiert (Mitte Februar 1942); BA Slg. SCHUMACHER 343. - Das Gespräch HITLERS mit den Gottscheer Vertretern fand am 26. 4. 1941 statt, s. Aktenvermerk der EWZ-Kommission Sonderzug vom 20. 10. 1941; NAW Roll 306 frame 2433819.

83  
Dieses "Memorandum" ist dokumentarisch sonst nicht zu belegen. Erhärtet wird dessen Existenz aber noch durch die Aussage Dr. STIERS, Niederschrift, Antw. 6; im Besitz des Verfassers: "Meiner Erinnerung nach war ein Memorandum zum Zwecke des Anschlusses der Gottschee an das Reich ausgearbeitet, da das Gebiet der Gottscheer Volkstumsinsel zur Krain, dem ehemaligen österreichischen Kronland, gehörte. Diese Pläne wurden jedoch durch die Außenpolitik überrollt. Die Achsenpolitik zwang HITLER zu Konzessionen bei der Aufteilung des besiegten Jugoslawien gegenüber dem Partner."

84
 Schreiben des VDA, Gauverband Kärnten, Klagenfurt, vom 22. 4. 1941 an Dr. PETSCHAUER (Abschrift): im Besitz des Verfassers. - Vgl. auch dazu: ULRICH VON HASSELL, Vom Andern Deutschland, a.a.O. S. 180 am 5. 5. 1941: "Ich traf in Berlin den jungen Fürsten Auersperg, der in Berlin herumläuft, um die Einverleibung Gottschees (besser als Umsiedlung) ins deutsche Gebiet zu betreiben . .."

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